Präriepost

Präriepost

4. Januar 2015

Es ist kalt in der Prärie, sehr, sehr kalt. Der erste Schnee des Jahres hat sich über Nacht ins Dorf gestohlen, eine dünne, weiße Decke liegt nun auf allen Wiesen und Straßen, zumindest so lange, bis der heulende Wind die Flocken durch die Gegend scheucht. Schon morgen wird es dann heftiger schneien, der Wetterdienst spricht von mehr als 20 Zentimetern. Die Natur erstarrt, die weiße Saison kann endlich beginnen.

Noch glitzern die Weihnachtskerzen an den Bäumen und auch unter dem Schnee auf der Terassenballustrade. Ein paar Dorfbewohner laufen zum See hinunter, dick eingepackt, er mit grauer Wollmütze, sie mit großem, buntem Schal, der lustig im Wind flattert. Dort unten sehen sie mehr als fünftausend Graugänse, die noch auf unserem vereisten See ausharren und einen Ruheplatz auf dem Weg in den sonnigen Süden finden. Vier dutzend Trompetenschwäne haben sich dazu gesellt und beherrschen das einzige Wasserloch, das den Zugang zum flüssigen Nass noch ein wenig freihält. Abends kommt es dann immer zum lautem Gänsekonzert, das wohl den Abflug noch in der Nacht ankündigen soll. Ein wenig trotzen sie den Dorfbewohnern schon, denn jene wissen ja, dass sie hier so leicht nicht wegkommen können. Jeder Gänseflug, immer laut verkündet, lässt die Stimmung der Hinterbliebenden ein bisschen niedergeschlagener werden; es ist tiefer Winter in der Prärie.

Die Dorfbewohner indessen verziehen sich in ihre warmen Stuben. “Zeit für den Winterschlaf”, meinen sie, “hier kriegt uns so schnell keiner aus dem Haus“. Der tiefe Winter macht auch den geselligsten Einwohner zum Einzelgänger – plötzlich endecken sie wieder das verstaubte Buch vom letzten Jahr. Sie lesen aufmerksam von einem in sich verlorenen Menschen, der erst durch die Straßen von Paris, dann durch die Straßen von London zieht. Mit seinen neuen Bekannten lebt er in den Tag hinein, ohne ein wirkliches Ziel vor Augen. Nein, dann lieber in der Prärie überwintern. Das Stimmungsbild Modiano´s passt nicht zur protestantischen Ethik in unserer Gegend. Wie kann man nur seine Pflichten vergessen wollen? Und doch hat dieses Buch etwas Bekanntes – aus der Dunkelheit herausfinden, ein sicherlich passendes Buch zur Jahreszeit.

Neben den Büchern sind auch die Filme wieder gefragt. Noch immer diskutieren sie die Tribute von Panem. Ist es wirklich eine Allegorie der amerikansichen Oligarchie, wie manche behaupten? Geht es hier tatsächlich nur um amerikanische Milliadäre, die Wahlen kaufen und Konzerne beherrschen? Ist die neue Gesellschaft, die sich hier enthäutet, wirklich eine bessere Form der Demokratie oder wird eine Propaganda mit der nächsten vertauscht? Die Antwort bleibt noch verborgen, und derartige Welten sind weit, weit vom Leben in kalten Norden entfernt. Sie können lediglich das Fenster der Welt mittels Apple TV öffnen, denn durch eine einzige Taste lässt sich auch hier jeder Tatort einspielen.

Dann holen sie noch schnell ein paar Holzscheite in die Stube um den Kamin anzuwerfen, und auch die Hausmusik findet wieder Freunde. Sie trinken Tee am Nachmittag, grünen Tee aus fernen Ländern, wohl um die Erinnerung wach zu halten an vergangene Tage, die sie aus dieser Kältezone in exotische Länder geführt hatten. Abends ist es dann Zeit für eine gute Flasche Rotwein, ein Bourdeaux natürlich, der kontrastreich zur Kälte innere Ruhe drinnen schafft; dazu gibt es frisch gebackenes Baguettes, eine wohlige Stimmung, die allen Drang, alle Hektik erstarren lässt; und schon bleibt alles diesseits der Haustürschwelle, die eine natürliche Grenze zur stöbernden Winterlandschaft darstellt. Dann nehmen sie sich vor, schon bald einen neuen Fitnesskurs zu belegen, denn die Ruhe allein kann nicht ewig Vorherrscher des Daseins bleiben.

Auch den Studenten hilft die winterliche Ruhe nicht, sie werden noch in dieser Woche im Dorf zurückerwartet. Sie haben ihre vorlesungsfreie Zeit bei ihren Familien verbringen dürfen, jetzt aber wird es Zeit, sich auf das Frühjahrssemester vorzubereiten. Wenn sie es schaffen, durch die Schneestürme in unser Dorf zurückzufinden, dann haben sie die erste Hürde genommen.

Die Kleinsten unter den Kleinen wissen noch nichts von der Welt des Studierens, sie halten noch den Zauber der Weihnachtszeit in Erinnerung.  „Haben, haben…“ sagen sie dann, auch wenn der Adventskalender schon lange keine Schokolade mehr enthält; „mehr, mehr“ sagen sie, wenn sie mit dem neuen Spielzeug weiterspielen wollen. Die Mütter und Väter nehmen sich Zeit, ausgiebiger mit ihren Kindern zu spielen, ihnen Bücher vorlesen und sich mit ihnen herumzubalgen. Und die Großeltern lehnen sich zurück und genießen den Lauf der Zeit und die Freude am jungen Leben, hier, in der Prärie, wo die Zeit in der Kälte erstarrt, wo die Menschen sich in ihren warmen Zimmern verstecken und wo nur die wegziehenden Graugänse lauthals ihren Abschied aus der Gegend verkünden.